Zynismus in der Pflege – wenn Lachen kippt und Menschlichkeit stirbt
Ein Schlag ins Gesicht?
„Ich kann nichts Positives zu dieser Frau finden. Ich bin nur noch genervt. Im Team nennen wir sie nur noch Nervi“, erzählt eine Pflegekraft im Seminar. Gemeint ist eine Bewohnerin, die ständig klingelt, mosert und sich beschwert – und dem ganzen Team auf die Nerven geht. Die Kolleginnen lachen, halb belustigt, halb erleichtert. Ein kurzer Moment der Verbindung entsteht. Ein Lachen, das Druck abbaut. Und gleichzeitig ein Schlag ins Gesicht. Denn hier ist es nicht der Humor, der spricht – hier ist es Zynismus.
Spiegel – wir alle kennen das
Zynismus schleicht sich leise ein. Er beginnt mit einem Augenrollen, mit einem flapsigen Spruch, mit einem ironischen Kommentar. Vermutlich kennen ihn alle, und gleichzeitig spricht ihn kaum jemand an. Denn Zynismus kann auf den ersten Blick ähnlich wirken wie Humor.
- Er bringt das Team zum Lachen.
- Er schafft für Sekunden ein verbindendes Gefühl: Wir sitzen alle im selben Boot.
- Er nimmt kurzfristig Druck raus, wenn alles zu viel wird.
Vielleicht macht ihn genau das so gefährlich. Während echter Humor stärkt, öffnet und entlastet, höhlt Zynismus auf Dauer aus. Er verschiebt Grenzen. Er lässt Haltung kippen. Und wer das spürt, wer sich traut zu sagen „Das ist nicht mehr witzig“, wird schnell zum Außenseiter. „Stell dich nicht so an.“ „Das ist doch witzig gemeint.“ „Ein paar Sprüche muss man aushalten.“ So wird Zynismus zum Gruppenkitt. Wer nicht mitlacht, steht draußen. Derzeit nehme ich wahr, dass sich Zynismus in einigen Teams als harmloses Kulturgut eingeschlichen hat. Könnte es sein, dass wir mit der Verharmlosung von Zynismus den Raum für mehr Menschlichkeit begrenzen?
Die Geschichte hinter „Nervi“
Im Seminar versuchen wir, die Perspektive zu wechseln: An jedem Menschen etwas Liebenswertes finden. Doch bei dieser Bewohnerin fällt der Teilnehmerin nichts ein. Wir beginnen nachzufragen.
Die Frau ist über 80 Jahre alt. Sechs Kinder – nur zu einer Schwiegertochter besteht eine verpflichtende Beziehung mit wenig Kontakt und kaum Herzlichkeit. Keine Freunde. Keine Nachbarn. Keine Verbundenheit zu den Mitbewohnerinnen. Im Team findet kaum jemand einen Draht.
Die Biografie? Fehlanzeige. Ein Stichwort: russische Nationalität. Sonst nichts. Kein Hinweis auf Familie, Glauben, Hobbys, Leidenschaften. Keine Geschichte, die ihr Gesicht mit Leben füllt. Nur das Etikett: „Nervi.“
Und ich frage mich: Was passiert, wenn wir am Ende des Lebens Menschen begleiten und unsere erste Reaktion ist – selbst schuld? Selbst schuld, dass die Kinder nicht mehr kommen. Selbst schuld, dass man keine Beziehungen im Heim aufgebaut hat. Selbst schuld, dass man „immer nur nervt“ und sich nicht pflegeheimkompatibel verhält. Wem hilft dieses „selbst schuld“? Und was bedeutet das Gefühl von „selbst schuld“, wenn wir den Gedanken von Palliative Care ernst nehmen und eigentlich die Lebensqualität der Betroffenen steigern wollen? Kann dieser Filter von „da hat sie selber schuld“ nicht auch unseren Blick verengen? Kann es sein, dass wir die Bedürfnisse der Betroffenen nicht mehr wahrnehmen können?
Was ist, wenn …?
Was ist, wenn wir vergessen, dass viele Menschen schon beim Einzug in einer Krise sind – einsam, verwitwet, orientierungslos? Was ist, wenn wir übersehen, dass hinter der ständigen Klingel ein Schrei nach Halt steckt: „Kann bitte jemand kommen? Kann bitte jemand zeigen, dass ich nicht allein bin?“ Was ist, wenn die einzige Sprache, die bleibt, die Sprache des Körpers ist – Schmerzen, Atemnot, Schlaflosigkeit? Und was ist, wenn wir nichts wissen – keine Biografie, keine Geschichte, keine Bedürfnisse? Dann bleibt nur das Etikett. Nur das Augenrollen. Nur der Zynismus.
Zynismus als stille Sprache der Überlastung
Zynismus ist keine Stärke. Er ist kein Humor. Zynismus ist die Sprache der Ohnmacht. Oft taucht er dort auf, wo Pflegende innerlich längst erschöpft sind und kaum mehr Worte finden, um das auszudrücken. Er ist das Ventil, wenn wir genervt sind, aber keinen sicheren Rahmen haben, das offen anzusprechen. Er ist die Tarnung, wenn wir uns eigentlich verletzlich fühlen, aber nicht verletzlich sein dürfen. Und er ist der Panzer, den wir hochziehen, wenn Nähe, Leid oder das ständige Klingeln zu viel wird.
Zynismus ist deshalb immer auch ein Signal: Hier gibt es Überforderung, hier fehlen Kraftquellen, hier fehlt vielleicht auch eine Sprache für das, was schwer auszuhalten ist. Für Außenstehende wirkt er oft nur wie ein harmloser Spruch. Doch unter der Oberfläche zeigt er die Müdigkeit und den inneren Rückzug derer, die eigentlich Pflege und Nähe geben wollen.
Und im Team wirkt er wie ein unsichtbares Gift:
- Er zersetzt Vertrauen, weil Worte nicht mehr eindeutig sind.
- Er verhärtet die Haltung, weil er Distanz schafft, wo Nähe nötig wäre.
- Er macht uns stumpf gegenüber dem Menschen, den wir eigentlich sehen sollten.
Das Gefährliche daran: Zynismus breitet sich leise aus, bis er fast unbemerkt Teil der Teamkultur wird. Man lacht mit, um dazuzugehören. Man schweigt, um nicht die Spaßbremse zu sein. Und so kann er ganze Teams prägen.
Gerade deshalb wünsche ich mir, dass insbesondere leitende Pflegende diese feine Sprache der Überlastung erkennen und nicht einfach wegwischen. Es geht nicht darum, Pflegende zu verurteilen, sondern zu verstehen: Hinter dem zynischen Spruch steckt fast immer eine Überforderung, manchmal auch eine Not, die keine Worte mehr findet. Teams brauchen dann nicht Belehrung, sondern Unterstützung.
Auch Leitungen sind hier nicht frei von Zynismus. „Es regnet ja keine Fachkräfte, die helfen“ – das ist selbst ein zynischer Satz, der Hoffnung und Handlungsfähigkeit untergräbt. Vielleicht geht es im ersten Schritt deshalb gar nicht um die schnelle Lösung, die es ohnehin oft nicht gibt, sondern um ein anderes Hinschauen: Achtsam sein, zuhören, Raum schaffen für Gefühle und für ehrliche Sprache. Erst wenn Zynismus als Symptom verstanden wird, können wir anfangen, den Kern dahinter zu sehen – und Menschlichkeit wieder Raum geben.
Zwei Leidende in einem System
Ich unterrichte das „Total Pain“-Konzept von Cicely Saunders: Schmerzen sind nicht nur körperlich, sondern auch sozial, psychisch, spirituell. Doch was, wenn wir diesen Blick verlieren? Dann bleibt für die Bewohnerinnen nur der Körper, um ihre Not auszudrücken: Kopfschmerzen, Atemnot, Schlafprobleme. Vielleicht kein Sauerstoffproblem – sondern Angst. Vielleicht keine Migräne – sondern Einsamkeit. Vielleicht kein Schlafdefizit – sondern Traurigkeit.
Und auf der anderen Seite: Pflegekräfte, die müde sind, überlastet, ausgebrannt.
Betroffene und Pflegende – vielleicht in einigen Bereichen zwei überforderte Positionen in einem System und sich doch gegenseitig kaum noch erreichen. Vielleicht ein Helfer- und Hilfesystem, das droht zu kippen?
Bildwechsel – die Praxisanleiterin
Eine Praxisanleiterin erzählt mir, warum sie aufgehört hat, als Praxisanleiterin tätig zu sein.
„Ich kann das nicht mehr. Ich soll den Schülern beibringen, eine Intimpflege mit drei Waschlappen zu machen: einen für die inneren Labien, einen für die äußeren, einen für den Anus.“
Drei Waschlappen – und kein Ohr fürs Herz. Standards und Technik bis ins kleinste Detail. Anleitungen, die genau festlegen, wie viele Handgriffe erlaubt sind und in welcher Reihenfolge sie zu erfolgen haben. Alles im Namen von Hygiene, Qualitätssicherung und Dokumentation. Und gleichzeitig ein Schweigen, wenn es um Haltung geht, um Empathie, um den Blick für den Menschen im Bett.
Für die Praxisanleiterin war das ein Bruch. Ihre Aufgabe sollte eigentlich darin bestehen, junge Menschen in die Kunst der Pflege einzuführen – in das, was es heißt, Nähe auszuhalten, Würde zu wahren und den Kern der Menschlichkeit zu bewahren. Stattdessen reduzierte sich ihr Tun immer mehr auf das Einüben von Checklisten.
Ich stelle mir vor, alt oder krank im Bett zu liegen. Versorgt nach Standard. Technisch korrekt. Mit allen Waschlappen an der richtigen Stelle. Und gleichzeitig fühlt sich niemand zuständig für meine Angst. Für meine Scham. Für meine Einsamkeit. Es bleibt eine Leere zwischen den Handgriffen, die niemand füllt.
Vielleicht übertragen sich zynische Betrachtungsweisen genau an dieser Stelle auf die Pflegenden: Wenn Haltung im Ausbildungskontext kaum eine Rolle spielt, wenn Empathie im Curriculum nur als Schlagwort vorkommt, wenn Vorbilder fehlen, die zeigen, wie man Haltung lebt, wo sollen junge Pflegende dann Orientierung finden? Wenn die Sprache des Herzens nicht gelehrt und geübt wird, bleibt nur die Sprache der Technik.
So entsteht eine gefährliche Schieflage: Einerseits Standards, Regeln und Handlungsanweisungen bis ins Detail. Andererseits ein Vakuum, wenn es um das „Wie“ der Begegnung geht. Und in diesem Vakuum kann Zynismus gedeihen – als bequeme, schnelle Antwort auf das, was sich nicht messen und nicht standardisieren lässt.
Zynismus – das Gift, das alles vergiftet
Zynismus ist bequem. Er entlastet kurz. Er bringt Lachen ins Team. Er erzeugt das Gefühl: Wir halten zusammen. Aber dieser Zusammenhalt ist brüchig. Denn er baut auf Spott. Auf Ausschluss. Auf einem „Wir gegen die da“. Und er frisst sich ins Herz des Teams:
- Wer Haltung bewahren will, gilt schnell als Spaßbremse.
- Wer nicht mitlacht, steht draußen.
- Wer den Zynismus hinterfragt, macht sich angreifbar.
So wächst ein Klima, in dem die lauten Sprüche die stillen Stimmen übertönen. Und am Ende kippt die Kultur.
Zynismus ist kein Ventil – er wird zum Problem. Er macht das Schwere nicht leichter. Er macht das Leichte schwer. Er zerstört, was Pflege im Kern ausmacht: Menschlichkeit.
Und wenn Pflege zynisch wird, stirbt zuerst genau das, was wir doch eigentlich bewahren wollen.
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