Wahrheit am Krankenbett... oder Wahhaftigkeit der Pflegenden

Vor 20 Jahren verstarb mein Vater. Damals war ich 23 Jahre alt und studierte außerhalb des Wohnortes meiner Familie. Ein Unfall hatte sein Leben abrupt beendet. Ich erinnere mich noch genau: Das Telefon klingelte, die Nachricht war ein Schock, und ich reiste nach Hause, um bei meiner Mutter zu sein. Wir wurden in ein Gespräch mit einem Arzt geführt – ich weiß nicht mehr, ob es der erste oder der fünfte Besuch war. Ich erinnere mich nur an den Raum: vollgestopft mit Akten, mit einfachen Stühlen, funktional eingerichtet, ohne Wärme.

Der Arzt versuchte, uns zu erklären, dass mein Vater ein multiples Organversagen hatte und die intensivmedizinische Behandlung keine Aussicht auf Erfolg brachte. Wir verstanden kaum ein Wort. Ich war Krankenschwester und dachte, ich wüsste, wie medizinische Informationen vermittelt werden, doch ich konnte es nicht begreifen. Es war ein Unfall, alles ging unglaublich schnell. Einige Tage davor war das Leben noch normal – und plötzlich stand ich vor der unfassbaren Realität.

Erst beim Besuch auf der Intensivstation, als eine Pflegekraft mir half, meinen Vater zu versorgen, wurde mir das volle Ausmaß bewusst. Ich sah und fühlte, was geschehen war. Erst durch diese direkte Erfahrung konnte ich nach und nach verstehen, was der Arzt mir eigentlich sagen wollte. Ich brauchte Zeit, um vom Begreifen zum Verstehen zu kommen.

Dieses Erlebnis begleitet mich bis heute. Immer wieder erinnere ich mich daran, wenn ich mit Pflegekräften zusammenarbeite. Ich sehe, wie sie sich empören, wenn Ärztinnen und Ärzte scheinbar nicht „vernünftig“ aufklären. Vielleicht gab es diese Gespräche schon. Vielleicht ist die Wahrheit einfach zu groß, zu überwältigend für Patientinnen und Angehörige, um sie sofort zu verstehen. Wir müssen begreifen, dass Aufklärung kein Moment ist, sondern ein Prozess – ein Prozess, den wir als Pflegende behutsam begleiten.

Häufig verbirgt sich hinter der Angst vor der Wahrheit die Angst, die Hoffnung zu verlieren. Diese Angst kann in eine emotionale Lähmung münden, die Patientinnen, Angehörige und auch das medizinische Personal blockiert. Therapie – sei es eine Operation, Chemotherapie oder eine andere Intervention – wird oft nicht nur als medizinisches Mittel gesehen, sondern als Instrument, in Beziehung zu bleiben, nicht aus dem System herauszufallen und den „freien Fall“ zu verhindern. Diese Angst erfordert einen sensiblen Umgang. Reflexion ist hier entscheidend: Sie hilft, Ängsten adäquat zu begegnen und die Kommunikation auf Augenhöhe zu gestalten.

Dabei lauert eine weitere Gefahr: unsere eigenen Werte. Häufig handeln wir so, wie wir es selbst für richtig halten – geprägt von unseren Erfahrungen, unserem Wissen und unseren Emotionen. Doch das, was uns gut erscheint, ist nicht immer das, was die Patientin oder ihr Umfeld wirklich braucht. Deshalb ist es wichtig, die Perspektive der Patientin einzunehmen, ihre Wünsche zu reflektieren und gemeinsam im Team zu überlegen, wie wir sie am besten begleiten können. Manchmal hilft es, bewusst einen Schritt zurückzutreten, sich zu dissoziieren und die eigenen Denkfallen zu prüfen. Ein gut gemeinter „nasser Lappen“ – das, was wir für ein direktes Wahrheits-Update halten – kann weh tun, wenn er zu früh oder unbedacht überreicht wird.

Die Angst vor der Wahrheit ist vielschichtig. Sie kann sowohl auf Seiten der Patientin, der Angehörigen als auch bei uns als Pflegenden liegen. Sie äußert sich in Sorge, Überforderung oder auch in Vermeidung. Therapiemaßnahmen können scheinbar helfen, diese Angst zu umgehen. Doch Reflexion bleibt notwendig: Wie geht die Patientin mit schlechten oder guten Botschaften um? Welche Ängste hat sie, welche die Angehörigen? Und welche Gefühle verdrängen wir als Pflegende vielleicht, weil wir selbst nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen?

Wahrheit ist mehr als Fakten. Sie ist auch eine Haltung. Max Frisch hat einmal gesagt: Wahrheit bedeutet nicht, jemanden die Wahrheit wie einen nassen Lappen ins Gesicht zu schlagen, sondern die Wahrheit wie einen Mantel hinzuhalten, in den sie hineinschlüpfen kann. In der Pflege heißt das: Wir sagen nicht alles, was wahr ist, auf einmal, aber das, was wir sagen, sollte wahr sein. Wahrhaftigkeit – also die Übereinstimmung von Wort und Haltung – schafft Vertrauen. Sie erlaubt Verbundenheit, auch in schwierigen Situationen.

Im klinischen Alltag zeigt sich: Unterschiedliches Wissen und unterschiedliche Wahrnehmung führen oft zu unterschiedlichen Empfindungen von Wahrheit. Deshalb ist es hilfreich, Missverständnisse früh zu klären, Fragen nach Ängsten zu stellen und die individuellen Bedürfnisse der Patientin zu erkunden. Ist ein Dreier- oder Zweiergespräch sinnvoll? Was braucht die Patientin wirklich, um die Situation zu verstehen und begleitet zu werden? Welche Rolle spielen wir als Pflegende, welche die Ärztin oder der Arzt?

Reflexion im Team kann hier entscheidend sein. Wir können gemeinsam überlegen, wie wir Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Umgang mit Patientinnen, Angehörigen und uns selbst leben wollen. Wir können unsere eigenen Werte bewusst prüfen, unsere Emotionen erkennen und uns fragen: Handeln wir im besten Interesse der Patientin – oder in dem, was uns selbst erleichtert oder schützt?

Schließlich gilt: Kommunikation ist komplex. Sie umfasst Worte, Haltung, Blick, Ton und Timing. Es geht nicht darum, die Wahrheit zu verschweigen, sondern sie auf eine Weise zu übermitteln, die verstanden werden kann. Prognosen sind nie absolut – auch wenn sie von Ärztinnen oder Pflegenden mit großer Erfahrung gegeben werden. Wir können Orientierung bieten, aber niemals alles voraussehen. Wichtig ist, das Gestern, Heute und Morgen der Patientin zu beachten und ihr Raum zu geben, ihre Realität Stück für Stück zu begreifen.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit bilden die Basis jeder Beziehung in der Pflege. Lügen oder Halbwahrheiten haben hier keinen Platz – weder von uns, noch von Patientinnen oder Angehörigen. Nur durch eine von Wahrhaftigkeit geprägte Haltung können wir Verbundenheit schaffen. Dabei ist die Beziehung bidirektional: Wir hören zu, wir spüren, wir reagieren und wir begleiten. Wahrheit ist nicht nur das, was gesagt wird, sondern wie wir sie tragen – als Mantel, der schützt, hält und den Raum gibt, zu verstehen und zu begreifen.

Praxisimpuls: Reflexion und Wahrhaftigkeit im Team und für dich selbst

Die Auseinandersetzung mit Wahrheit am Krankenbett ist nicht nur eine intellektuelle Aufgabe, sondern auch eine emotionale. Sie verlangt, dass wir uns selbst und unsere Haltung regelmäßig hinterfragen – als Team und als einzelne Pflegekraft. Dabei hilft es, innezuhalten, zu reflektieren und den Blick auf die Patientin und ihre Familie zu richten, bevor wir handeln oder etwas aussprechen.

Reflexionsfragen für das Team – Wahrhaftige Teamhaltung

  1. Wie gehen wir miteinander um, wenn es um schwierige Botschaften oder schlechte Nachrichten geht?
  2. Gibt es Situationen, in denen wir „die Wahrheit“ unterschiedlich interpretieren oder vermitteln? Wie gehen wir damit um?
  3. Welche Rolle spielt Empathie in unserer Kommunikation untereinander und mit Patientinnen und Angehörigen?
  4. Wo könnten wir als Team unbewusst unsere eigenen Werte über die Bedürfnisse der Patientin stellen?
  5. Wie schaffen wir es, dass jede von uns ihre Sichtweise einbringen kann, ohne dass dies die Patientinnenbeziehung belastet?
  6. Welche Strukturen oder Rituale helfen uns, regelmäßig unsere gemeinsame Haltung zu prüfen und zu reflektieren?
  7. Wie gehen wir mit Konflikten um, die entstehen, wenn Wahrnehmung von Wahrheit oder Vorgehensweise auseinandergeht?

Reflexionsfragen für jede einzelne Pflegekraft – Wahrhaftige Haltung im Alltag

  1. Welche Ängste begleiten mich, wenn ich schwierige Nachrichten überbringe oder begleite?
  2. Wo könnte ich unbewusst meine eigenen Werte oder Erfahrungen in Entscheidungen einbringen, die eigentlich den Bedürfnissen der Patientin oder Familie dienen sollten?
  3. Wie kann ich besser beobachten, was die Patientin wirklich braucht, bevor ich handle oder etwas sage?
  4. Welche Rolle spielen meine Emotionen dabei, wie ich Wahrheit vermittle?
  5. Wie kann ich Dissoziation oder kurze Distanz nutzen, um meine eigenen Denkfallen zu prüfen, bevor ich reagiere?
  6. Gibt es Situationen, in denen ich gut gemeint „zu viel“ gesagt habe und dies eher belastend war? Was kann ich daraus lernen?
  7. Wie kann ich sicherstellen, dass meine Worte und mein Verhalten wahrhaftig und gleichzeitig einfühlsam sind?
  8. Welche Schritte kann ich konkret unternehmen, um in schwierigen Situationen Verbundenheit zu bewahren und gleichzeitig ehrlich zu bleiben?

„Wahrheit bedeutet nicht, jemandem die Wahrheit wie einen nassen Lappen ins Gesicht zu klatschen, sondern man sollte einem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, in den er hineinschlüpfen kann.“ (Max Frisch)

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