Trost und Vertrösten: Eine Frage der Haltung

Kennst du den Unterschied zwischen Trost und Vertrösten?
Trost ist eine zarte Form der Zuwendung. Es ist eine Haltung, die sich dem Gefühl des anderen zuwendet. Trost braucht ein geschultes Ohr, das zwischen den Zeilen hört. In der Metapher eines Buches gesprochen: Trost liest nicht nur die schwarze Schrift auf dem Papier, sondern achtet auch auf die weißen Zwischenräume. Trost hört hin, was jemand vielleicht nicht direkt sagt, aber meint. Trost spürt die Stille hinter den Worten.
Vertrösten hingegen ist ein Weg-vom-Gefühl. Es ist oft gut gemeint, aber eben genau das: ein Versuch, das Unangenehme schnell zu übergehen. Es stellt etwas anderes dagegen, bietet Ablenkung, verändert den Fokus. Dabei verfehlt es das, worum es im Kern geht: das Anerkennen dessen, was gerade ist.
Ein Beispiel aus dem Alltag: Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Liebeskummer mit 15. Meine Mutter sagte: „Andere Mütter haben auch schöne Söhne.“ Sie wollte mich trösten. Aber für mich war es eine schlimme Situation in meinem bisherigen Leben. Vielleicht war ich davon überzeugt, nie wieder jemanden zu finden. Die Beziehung hatte immerhin drei Wochen gehalten. Ihre Worte haben mich damals nicht erreicht. Warum? Weil sie nicht auf meiner Landkarte unterwegs war. Die Landkarte als Metapher hilft mit auch im Alltag sehr. Ich habe meine Landkarte und du deine. Wenn in der Pflege gearbeitet habe, kann ich ganz andere Erfahrungen gemacht haben, wie du, der in einem ähnlichen Kontext gearbeitet hast. Wir müssen versuchen die Landkarte des anderen zu erkunden – neugierig sein auf die Landkarte der anderen.
In meinem Beispiel aus meiner Jugend hätte neugierig auf meiner Landkarte machen können. Fragend und suchend sich fortbewegen und neugierig zu sein, wie Liebeskummer sich für mich anfühlt oder wie sich der Pflegeberuf für dich anfühlt – es kann gefährlich und wenig zuwendungsvoll sein, wenn wir unreflektiert von unserer Situation auf die unseres Gegenübers schließen. Eine Trosthaltung in meiner Liebeskummerzeit hätte bedeutet, sich für meine Gefühle zu interessieren, meine Sorgen ernst zu nehmen.
In der Pflege erlebe ich ähnliche Situationen: Ein Patient sagt, das Wetter sei auch nicht zur Aufheiterung geeignet. Vertröstend wäre die Antwort: „Warten Sie mal ab, morgen scheint bestimmt wieder die Sonne.“ Tröstend wäre: „Ist Ihnen überhaupt nach Aufmunterung zumute?“ Die zweite Frage geht ins Gefühl, sie öffnet Raum.
Meine Empfehlung: sich fragend der Trosthaltung nähern. Fragen ermöglichen dem Gegenüber, zu wählen. Vielleicht sagt der Patient: „Ach, eigentlich wollte ich nur ein bisschen über das Wetter plaudern.“ Auch das ist gut. Aber es bleibt die Haltung: Ich höre zu. Ich nehme dich ernst.
Wir in der Pflege haben uns oft Sprachmuster angewöhnt, die aus Zeitmangel oder Struktur heraus entstanden sind. Geschlossene Fragen gehören dazu: „Haben Sie alles?“ „Kommt Ihre Tochter noch?“ „Brauchst du noch was?“ „Soll ich die Tür zumachen?“
Sie sind effizient, aber sie lassen wenig Raum für Beziehung. Wenn wir Menschen wirklich begegnen wollen, wenn wir begleiten statt verwalten wollen, dann brauchen wir offene Fragen. Fragen, die Türen öffnen:
„Was würde Ihnen guttun?“ „Was sind schöne Erinnerungen an früher?“ „Was meinen Sie genau damit?“ „Was hat Sie bisher besonders getroffen?“ „Möchten Sie mit mir über Ihr Leben sprechen? Und wie haben Sie Ihre Jugend oder die Familienzeit erlebt?
Diese Fragen zeigen: Ich bin da. Ich möchte wissen, wer du bist. Ich respektiere, dass du entscheidest, wie tief das Gespräch geht.
Trost ist keine Technik, keine Methode zum schnellen Einsatz. Es ist eine Haltung. Eine Entscheidung. Professionelles Handeln in Pflege und Betreuung braucht diese Haltung, besonders dann, wenn Worte fehlen, wenn Schmerzen überwiegen, wenn Verlust den Raum füllt. Dann braucht es Menschen, die verweilen können.
Was wir dagegen häufig erleben, sind Sprachmuster des Vertröstens:
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Kontextverschiebung: „Im Zimmer 203 geht’s viel schlimmer zu.“
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Verallgemeinerung: „Eines Tages müssen wir alle sterben.“
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Bagatellisierung: „Die Kinder in Afrika haben auch nichts.“
Diese Sätze sind vertraut, aber sie erreichen nicht. Sie berühren nicht. Sie helfen nicht. Sie reißen ab, statt zu verbinden.
Was ich mir wünsche? Mehr Trosthaltung in Pflege und Betreuung. Mehr Menschen, die unterscheiden können, was Worte bewirken. Mehr Reflexion darüber, wie wir sprechen und wie wir gemeint sind.
Das dauert nicht mehr Zeit. Es kostet keine Extraminute. Es ist eine Frage der Haltung. Eine Frage des Kurses, den ich mir selbst gebe. Als Pflegekraft. Als Begleiterin. Als Mensch.
Reflexionsfragen für den Alltag:
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Wann habe ich zuletzt getröstet? Wann eher vertröstet?
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Wie spreche ich, wenn ich das Gefühl meines Gegenübers nicht aushalte?
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Welche offenen Fragen möchte ich mir zur Gewohnheit machen?
Trost beginnt dort, wo ich mir erlaube, einen Moment mit dem Menschen zu verweilen. Nicht über ihm, nicht unter ihm, sondern neben ihm.
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