„Im Grunde sind wir ein Hospiz“
Warum Pflegeheime ihre Haltung zum Sterben überprüfen sollten
„Im Grunde sind wir ein Hospiz – nur ohne den Personalschlüssel und die Kultur.“ Dieser Satz einer Pflegedienstleiterin klingt nach Resignation – und nach einer unbequemen Wahrheit. Denn schaut man auf die Sterberate in stationären Pflegeeinrichtungen, hat sie recht: Viele Menschen ziehen in einer Krise ein – nach einem Sturz, einer schweren Erkrankung, dem Tod des Partners oder mit kognitiven Einschränkungen – und versterben oft innerhalb des ersten Jahres nach dem Einzug. Etwa ein Drittel der Bewohnerinnen verstirbt binnen sechs Monaten.
Beim Einzug dominiert oft das Thema Abschied: Abschied von einem alten, selbstbestimmten Leben im eigenen Zuhause, von Nachbarschaft, von der eigenen Gesundheit – und ein Stück weit auch vom Leben selbst. Natürlich versuchen Pflegeheime, Selbstbestimmung und Lebensqualität zu erhalten. Dennoch ist der Einzug für viele Bewohnerinnen ein gravierender Umbruch.
„In Zimmer 212 sind in den letzten 5 Monaten 6 Bewohnerinnen verstorben“
Gleichzeitig ist das Pflegeheim keine klassische Einrichtung, in der Sterben und Tod den Alltag bestimmen. Viele Bewohnerinnen verbringen dort noch mehrere Jahre. Eine offene, dauerhafte Kommunikation über Tod und Sterben wäre für sie – und auch für die Mitarbeitenden – kaum auszuhalten. Das macht das Pflegeheim zu einem besonderen Ort: Hier wird oft implizit gestorben. Es fehlen häufig Sprache, Rituale, Reflexionsräume – und eine Kultur, die dem Abschied seinen Platz gibt, ohne das Leben zu beschweren.
Wie kann eine neue Haltung zum Sterben im Pflegeheim aussehen? Und was braucht es, damit Pflegende, Betreuende und Einrichtungsleitungen dieser Realität mit Kompetenz, Würde und Menschlichkeit begegnen?
„Palliative Care? Brauchen wir nicht, das können wir nicht abrechnen.“
Es ist erfreulich, dass sich die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) als Leistung etabliert hat und so auch Bewohnerinnen in Pflegeheimen von Palliative-Care-Teams begleitet werden können. Und gleichzeitig gehört diese Kompetenz mehr denn je mitten ins Pflegeheim. Denn Palliative Care bietet das fachliche und menschliche Handwerkszeug, um schwerkranke und sterbende Menschen würdevoll zu begleiten. Dabei geht es nicht nur um medizinische Schmerztherapie, sondern um eine ganzheitliche Sichtweise – körperlich, emotional, sozial und spirituell.
Pflegefachkräfte brauchen Wissen über typische Symptome am Lebensende – wie Schmerzen, Atemnot, Angst oder Unruhe. Sie brauchen aber auch alltagstaugliche pflegerische Maßnahmen: achtsame Mundpflege, beruhigende Atemübungen oder entlastende Lagerungstechniken. Vor allem aber geht es um das „Wie“ – wie ich spreche, zuhöre, berühre, präsent bin. Dieses „Wie“ macht oft den Unterschied – es verändert die Kultur, das Miteinander, die Kommunikation mit Angehörigen und die Begleitung der Bewohnerinnen.
„Meine Kollegin spricht mit jeder Bewohnerin über das Wetter.“
Zwischen echtem Trost und gut gemeintem Vertrösten liegt ein großer Unterschied. Bewohnerinnen spüren, ob jemand wirklich da ist oder nur Floskeln verwendet. Eine zugewandte Haltung, authentische Kommunikation und achtsame Begleitung machen den Unterschied – auch wenn die Zeit knapp ist.
Palliative Care schult nicht nur Fachwissen, sondern stärkt Haltung. Es geht darum, in Resonanz zu gehen, Mitmenschlichkeit zu leben – und auch auszuhalten, was nicht gelöst werden kann. Wenn dann eine Bewohnerin sagt: „Das Wetter ist gerade nicht zur Aufheiterung geeignet“, dann habe ich die Wahl, über das Wetter zu sprechen – oder über das Gefühl, das in dieser Aussage mitschwingt. Vielleicht frage ich dann: „Wäre Ihnen gerade nach Aufheiterung?“
„Wir Pflegeassistentinnen sind ja eigentlich bei den Bewohnerinnen.“
In vielen Einrichtungen fehlt es nicht am guten Willen, sondern an breitem Wissen. Vor allem Betreuungskräfte und Pflegehilfskräfte erleben den Alltag der Bewohnerinnen hautnah mit – oft intensiver als die Pflegefachkräfte. Sie begleiten Gespräche, Abschiede und Verluste. Dennoch sind sie selten Teil palliativer Fortbildungen.
Wir steuern auf ein Spannungsfeld zu: Fachkräfte haben immer weniger Kontaktzeit mit Bewohnerinnen – sei es aufgrund von Personalknappheit oder organisatorischen Strukturen. Umso wichtiger ist es, auch Pflegehilfs- und Betreuungskräfte in palliativen Themen zu schulen – gerne in praxisnahen, niedrigschwelligen Formaten. Denn eine palliative Haltung ist keine Frage des Examens, sondern der inneren Haltung und fachlichen Sicherheit.
Reflexionsräume: Fühlen dürfen entlastet
Pflegende und Betreuende erleben täglich Situationen, die emotional tief berühren – und häufig keine Zeit lassen, um sie zu verarbeiten. Eine Bewohnerin stirbt – und schon klingelt das nächste Zimmer.
Dabei ist das Fühlen ein essenzieller Teil professioneller Arbeit. Wer dauerhaft belastende Erfahrungen nicht reflektiert, droht auszubrennen. Was hilft, ist eine reflexive Praxis: geschützte Räume, in denen Erlebtes ausgesprochen, eingeordnet und geteilt werden kann. Das stärkt die Fachlichkeit – und schützt die Seele.
Abschiedskultur statt Aktionismus
In manchen Einrichtungen wird der Tod eher verdrängt – oder mit Aktionismus überdeckt. Noch ein Gruppenangebot, noch ein Ausflug – um bloß nicht in die Stille zu kommen.
Dabei braucht das Sterben vor allem eines: Raum. Und Stille. Eine entwickelte Abschiedskultur kann helfen, diesen Raum zu gestalten. Kleine Rituale – ein Licht, ein Moment der Stille, ein Gedenken – geben Halt. Nicht nur den Bewohnerinnen, sondern auch den Mitarbeitenden.
Die Herausforderung Hochaltrigkeit
Viele Bewohnerinnen sind hochaltrig, manche über 90. Der Tod kommt nicht plötzlich, sondern über Wochen, manchmal Monate. Symptome sind oft diffus, Kommunikation erschwert – besonders bei Menschen mit Demenz.
Hier braucht es eine geschulte Wahrnehmung: Was braucht die Bewohnerin, die nicht mehr sprechen kann? Was zeigt sie über Mimik, Atmung, Körperspannung? Welche Zeichen deuten auf Schmerzen hin – welche auf Angst?
Gerade hochaltrige Menschen mit Demenz brauchen eine sensible, mitfühlende Begleitung – körperlich und emotional.
„Palliative Care machen wir schon.“
Wenn Sterben im Heim Alltag ist – wie oft wird es wirklich thematisiert? Vielleicht ist es eine zu große Belastung. Vielleicht passt es nicht in die eng getakteten Abläufe. Vielleicht macht es Angst.
Doch genau das wäre der Schlüssel: eine Kultur, in der Abschied Teil des Lebens ist. In der über Trauer, Endlichkeit und Verlust gesprochen werden darf. In der Pflege nicht nur versorgt, sondern begleitet. In der Leitung, Pflege und Betreuung gemeinsam Haltung zeigen.
Bitte frag dich: Wie sehr leben wir in unserer Einrichtung eine Abschiedskultur? Wie gestalten wir den Einzug? Sind wir sensibel dafür, dass Bewohnerinnen beim Einzug häufig in einer Krisensituation sind? Wie sehen wir Angehörige, die sich vielleicht herausfordernd verhalten – weil sie selbst in Überforderung und Trauer stecken?
Die Entwicklung einer palliativen Haltung beginnt nicht mit einem neuen Konzept, sondern mit einer ehrlichen Frage: Wie wollen wir sterbende Menschen begleiten? Und was brauchen wir dafür?
Fazit: Ein gutes Herz reicht nicht.
Pflege im Heim ist anspruchsvoll. Sie verlangt Fachlichkeit, Haltung, Menschlichkeit. Wer Menschen am Lebensende begleiten will, braucht mehr als Mitgefühl. Es braucht Qualifikation, Reflexionsfähigkeit – und eine Kultur, in der das Thema Sterben nicht verdrängt, sondern würdevoll integriert wird.
Denn im Grunde sind viele Pflegeheime Hospize in einem überlegen, nämlich in der Sterberate. Die meisten älteren Menschen sterben im Pflegeheim – aktuell fast 40 % aller Todesfälle in Deutschland.
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