Ich bin (k)ein Prellbock - Zwischen Nähe, Haltung und Selbstschutz
Ein Impuls für Pflegende, die täglich Brücken bauen – und dabei selbst ganz bleiben wollen
Ein Gespräch, das nachhallt
Es ist einer dieser Kurstage, an denen etwas hängen bleibt. Nicht, weil die Theorie so besonders wäre oder die Methode so innovativ. Sondern, weil jemand etwas sagt, das in die Tiefe trifft. Tabea, erfahrene Pflegekraft in einem Hospiz, erzählt von einer Begegnung mit Angehörigen. Von einer Patientin, die im Sterben lag, und einer Situation, in der plötzlich alles, was vorher noch ruhig und klar schien, kippt.
„Irgendwann hab ich die Tür nicht mehr aufgemacht“, sagt sie. „Ich konnte nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, egal was ich tue – es reicht nie. Ich war der Prellbock.“
Es wird still im Raum. Viele nicken. Prellbock – das Wort bleibt hängen. Ich schreibe es an die Flipchart. Und merke, wie sich etwas verändert. Plötzlich sind wir nicht mehr beim Thema Kommunikation mit Angehörigen, sondern mittendrin im Erleben: dem Gefühl, zwischen den Fronten zu stehen. Zwischen Verzweiflung, Hoffnung, Schuld, Wut. Und mittendrin: wir.
Was ist ein Prellbock eigentlich – und was macht dieses Bild mit uns?
Ich gebe offen zu, dass ich das Wort nur vage kenne. Irgendwas mit Bahn. Irgendwas, das verhindert, dass etwas entgleist. Die Gruppe hilft mir weiter: Ein Prellbock steht am Ende eines Gleises. Dort, wo der Zug nicht weiterfahren kann, verhindert er, dass der Waggon ins Leere rauscht.
Ein Prellbock ist also nicht das Problem – er ist die Lösung. Er bremst, dämpft, fängt auf. Und er bleibt dabei stabil.
Dieses Bild verändert unsere Sichtweise. Vielleicht ist es gar kein Schimpfwort, Prellbock genannt zu werden. Vielleicht steckt darin sogar etwas sehr Würdiges.
Prellbock sein – das heißt nicht, sich alles gefallen zu lassen
Natürlich ist es belastend, wenn Angehörige ihre Wut, ihre Angst und ihre Ohnmacht ungefiltert an uns abladen. Natürlich tut es weh, wenn der eigene Einsatz hinterfragt wird – gerade dann, wenn wir alles geben.
Und dennoch zeigt sich im Gespräch, dass es eine Haltung gibt, die genau in solchen Momenten trägt. Eine Teilnehmerin sagt: „Ich glaube, es ist sogar gut, dass ich das manchmal auffange. Denn wenn ich es nicht tue, kommt es vielleicht bei der Patientin an.“
Diese Perspektive ist kraftvoll. Sie bedeutet nicht, dass wir alles aushalten müssen. Aber sie betont, dass wir uns bewusst entscheiden können. Wir sind nicht Opfer der Situation – wir sind Teil der Lösung. Wir geben Halt, damit andere nicht entgleisen. Und das ist alles andere als passiv.
Zwischen allen Fronten – und doch mit Haltung
Im Alltag geraten wir oft zwischen verschiedene Erwartungen: Angehörige wünschen sich Nähe und Information, aber keine unangenehme Wahrheit. Ärzt:innen erwarten Klarheit, aber bitte ohne Emotionen. Das Team hofft auf Stabilität, auch wenn es selbst wankt.
Und wir? Wir sind da. Wir tragen mit. Und das kostet Kraft.
Und: Es macht auch Sinn. Wenn wir begreifen, dass unser Dasein, unser Aushalten, unser professionelles In-Kontakt-Bleiben mit aufgebrachten, verzweifelten, erschöpften Menschen einen Unterschied macht, verändert sich etwas in uns. Wir werden nicht kleiner, sondern klarer.
Denn ein Prellbock steht nicht im Weg – er steht da, wo etwas gestoppt werden muss, damit es weitergehen kann.
Was Angehörige wirklich brauchen
In unseren Kursen sprechen wir immer wieder darüber, was hilft, wenn Worte fehlen. Viele sagen: „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Und das ist okay. Vielleicht ist genau das der beste Einstieg. Denn oft ist echtes Dasein viel wertvoller als jeder gut gemeinte Ratschlag.
Trauernde brauchen keine Trostformeln. Sie brauchen keine Optimismustipps. Was sie brauchen, ist das Gefühl, dass sie mit ihrem Schmerz sein dürfen. Dass sie gesehen werden. Dass jemand da ist – auch wenn er oder sie nicht genau weiß, wie.
Und sie brauchen Raum. Raum zum Schweigen. Raum zum Erinnern. Raum zum Ausprobieren neuer Rituale. Raum für Tränen – und auch für Lachen.
Hilflosigkeit und Wucht – was tun mit den Emotionen anderer?
In der Begegnung mit Angehörigen erleben wir oft sehr rohe Emotionen. Und manchmal sind sie nicht einmal gegen uns gerichtet – sie treffen uns nur. Ein Mann, der mit Tränen in den Augen schreit, dass „hier nichts funktioniert“. Eine Tochter, die bei jeder Berührung ihrer Mutter zusammenzuckt und uns vorwirft, zu viel oder zu wenig zu tun. Diese Situationen gehen unter die Haut. Und sie hinterlassen Spuren.
Eine Kollegin formuliert es so: „Ich weiß ja, dass das nichts mit mir zu tun hat. Aber trotzdem trifft es mich.“ Und genau da wird es spannend. Denn ja – es hat nicht direkt mit uns zu tun. Aber wir sind die Projektionsfläche. Der Spiegel. Der Ort, an dem das Unverdaute abgeladen wird. Manchmal sind wir das, weil wir greifbar sind. Manchmal, weil wir der sicherste Ort sind. Weil wir als professionell gelten, als stark, als „die, die das aushält“.
Das ist eine Form von Vertrauen – auch wenn sie sich nicht so anfühlt.
Wann wird es zu viel? – Selbstfürsorge im Alltag
Natürlich dürfen und müssen wir Grenzen setzen. Ein Prellbock, der bricht, nützt niemandem. Deshalb ist es entscheidend, früh wahrzunehmen, wann etwas kippt. Wann sich Hilfsbereitschaft in Überforderung verwandelt. Wann unser Mitgefühl in Gereiztheit umschlägt.
Fragen, die dir helfen können:
- Spüre ich noch, was ich brauche – oder funktioniere ich nur noch?
- Kann ich abends noch einschlafen – oder kreisen die Gedanken?
- Habe ich jemanden, bei dem ich auch mal sagen kann: Heute war’s zu viel?
Gute Pflege braucht nicht nur Fachlichkeit, sondern auch emotionale Hygiene. Und das bedeutet: Ich darf mich schützen. Ich darf Nein sagen. Ich darf mich aus Situationen herausnehmen, wenn sie mich zu sehr belasten.
Rituale als Hilfe – oder als Überforderung?
Im Gespräch erzählt eine Kollegin von einem Ritual im Hospiz: Angehörige dürfen das letzte Kleidungsstück des Verstorbenen aussuchen. Ein liebevoller Gedanke. Ein Moment, der Teilhabe ermöglicht. Aber was, wenn die Angehörigen noch gar nicht so weit sind? Wenn die Frage, was der Mensch tragen soll, wenn er tot ist, sie überrollt – weil sie innerlich noch beim Hoffen sind? Es sind diese Feinheiten, die entscheidend sind. Nicht jedes gute Ritual ist zur richtigen Zeit gut. Manchmal braucht es einfach nur ein bisschen mehr Taktgefühl. Ein bisschen mehr Raum. Und die Frage: Möchten Sie das jetzt – oder lieber später?
Autonomie wahren – auch in der Krise
Angehörige sind oft in einer Situation, in der sie nichts mehr entscheiden können. Die Krankheit übernimmt das Steuer. Das medizinische System hat seinen eigenen Rhythmus. Rituale, Abläufe, Pläne – alles ist durchgetaktet. Was dann hilft, ist echte Wahlfreiheit. Angebote, die nicht überfordern. Entscheidungen, die man auch vertagen darf. Ein liebevolles Nein muss genauso Platz haben wie ein dankbares Ja.
Zirkuläre Fragen als Einladung zum Perspektivwechsel
Wenn die Wucht der Emotionen zu groß wird, können zirkuläre Fragen helfen:
- „Was denken Sie, wie Ihre Schwester die Situation gerade wahrnimmt?“
- „Wenn Ihre beste Freundin dabei wäre – was würde sie Ihnen raten?“
Diese Fragen öffnen einen Raum. Sie lenken die Aufmerksamkeit weg von der Eskalation – hin zu innerer Reflexion. Und manchmal verändert das schon alles.
Und was ist mit uns?
Am Ende des Tages bleiben auch wir mit unseren Emotionen zurück. Mit dem Gefühl, gebraucht zu werden – aber manchmal überfordert. Mit dem Wunsch, zu helfen – und der Angst, zu versagen. Mit dem Bedürfnis, etwas zu halten – und der Sehnsucht, auch selbst gehalten zu werden.
Vielleicht ist das das Wichtigste an der Metapher des Prellbocks: Er steht nicht alleine. Er ist Teil eines Systems. Er hat seine Funktion – und er darf stabil sein. Aber er muss nicht unverwundbar sein.
Ein letzter Gedanke – zum Mitnehmen
Vielleicht ist es nicht die Aufgabe von Pflegekräften, jede Emotion im Raum aufzufangen.
Aber vielleicht ist es eine ihrer besonderen Fähigkeiten, dort zu bleiben, wo es weh tut – ohne sich selbst zu verlieren.
Ich bin nicht verantwortlich für alle Gefühle. Aber ich kann mich entscheiden, ein Halt zu sein – für andere. Und für mich selbst.
„Wenn du fühlst, dass du der Prellbock bist – frag dich: Wofür will ich mich zur Verfügung stellen? Und wann ist es zu viel?“
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