Grenzfall des Berufs - Es war, als wäre sie plötzlich in einer anderen Rolle – aber immer noch eine von uns

„Es war, als wäre sie plötzlich in einer anderen Rolle – aber immer noch eine von uns.“
Seit über 40 Jahren arbeitet Maria in unserem Haus. Sie war eine Institution. Die geborene Krankenschwester – hilfsbereit, verlässlich, immer bereit einzuspringen. Jeder in unserer kleinen Klinik kannte und schätzte sie. Man begegnete ihr auf dem Flur, beim Betriebsfest, am Weihnachtsmarkt-Stand. Und man wusste: Wenn Maria da ist, läuft’s. Sie brachte gute Laune mit, war herzlich, präsent, echt – eine von denen, bei denen man sich denkt: „Solche Kolleginnen halten den Laden zusammen.“
Sie war bekannt im ganzen Haus. Und beliebt. Die, die bei Betriebsausflügen die Stimmung rettete. Die, die im Dienstplan auffiel, weil sie selbst in stressigen Zeiten nicht klagte, sondern einfach mitanpackte.
Viele kannten sie nur vom Sehen – und fühlten sich ihr doch verbunden. So eine Kollegin, mit der man nicht jeden Tag spricht, aber von der man genau weiß: Sie ist ein guter Mensch.
Und dann kam plötzlich die Erkrankung. Von einem auf den anderen Tag fiel Maria aus. Man hörte, dass sie einen bösartigen Tumor hatte. Es ging schnell. Viel schneller, als man es fassen konnte. Und nach kurzer Zeit kam sie als Patientin auf die Palliativstation. Im eigenen Haus. Mit der Aussicht: keine Heilung mehr. Noch sechs Wochen zuvor hatte sie sich auf die Rente gefreut. Mehr Zeit mit ihrem Mann. Endlich wieder lange Radtouren. Endlich leben – nach all den Jahren voller Verantwortung.
Und dann dieser Moment: Ihr Name auf der Patientenliste. Die gute Seele des Hauses – jetzt schwer krank, im Bett, auf unserer Station. Nicht mehr Kollegin, sondern Patientin. Sterbende Patientin.
So saßen wir zusammen in einer Supervision. Maria ist inzwischen ins Hospiz verlegt worden. Die Zeit, in der sie als Patientin im eigenen Haus war, ist vorbei – und doch so präsent. Noch lange nicht vergessen.
Wenn Beruf und Menschsein verschwimmen
In der Pflege (und auch in vielen anderen sozialen Berufen) gibt es Momente, die uns sprachlos machen. Situationen, in denen unsere professionelle Haltung auf etwas stößt, das sich nicht mehr „einordnen“ lässt. Keine Checkliste, kein Leitfaden, keine Routine hilft dann weiter.
Solche Momente sind Grenzfälle des Berufs.
Der Begriff beschreibt Situationen, in denen die berufliche Rolle an emotionale, ethische oder strukturelle Grenzen stößt – weil etwas passiert, das nicht mehr nur mit Fachwissen oder Handlungskompetenz bewältigt werden kann.
Beispiele:
- Eine Kollegin wird zur Patientin
- Eine Bewohnerin stirbt, mit der man eine besondere Geschichte hat
- Angehörige bringen eine emotionale Wucht mit, die das ganze Team erschüttert
- Ein Teammitglied verlässt plötzlich den Dienst – durch Unfall, Krankheit, Tod
- Man fühlt sich hilflos, weil das eigene System nicht mehr trägt
Der Grenzfall bedeutet nicht, dass man versagt hat. Im Gegenteil: Er zeigt, dass man Mensch ist.
Was passiert im Inneren bei einem Grenzfall?
Viele Pflegende kennen diese Mischung:
- Ich sollte funktionieren – aber ich fühle zu viel.
- Ich will professionell bleiben – aber ich bin erschüttert.
- Ich sollte stabil sein und den Betroffenen Halt geben – aber ich drohe zu zerbrechen.
- Ich hab mich zurückgezogen – weil ich keine Worte hatte.
- Ich hab zu viel gemacht – aus Loyalität, aus Schuldgefühl, aus Liebe.
Es braucht einen geschützten Raum, in dem man die Erfahrung einordnen kann. Einen Ort, an dem nicht funktionieren müssen darf. Einen Rahmen, in dem man sagen kann:
- „Ich habe nicht verstanden, wie schnell das ging.“
- „Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich nicht mehr zu ihr gegangen bin.“
- „Ich habe ihre Stimme vermisst im Team.“
Reflexion – Raum für Menschlichkeit im Beruf
Professionelle Reflexion in Form von Supervision ist nicht Therapie. Und keine Teamrunde. Und auch kein Gejammer. Supervision ist ein professionell begleiteter Reflexionsraum. Ein Ort, an dem Dinge ausgesprochen werden dürfen, die sonst untergehen. Ein Raum, in dem Teams wieder Halt finden – und Sprache, wo vorher nur ein Kloß im Hals war.
Reflexion im Beruf bringt folgendes:
Würdigung statt Abwehr
Wenn etwas emotional überfordernd ist, greifen viele zu einem automatischen Schutzmechanismus: Abwehr. Man funktioniert weiter, redet nicht mehr darüber, macht einen Witz, schweigt – einfach um „weiterzumachen“. Doch das hat seinen Preis.
Supervision schafft einen Raum, in dem die Erfahrung nicht weggeschoben, sondern gesehen und gewürdigt wird:
„Ja, das war viel. Und ja, du warst mittendrin.“
Würdigung bedeutet nicht, sich im Schmerz zu verlieren – sondern anzuerkennen, dass es eine tiefe Wirkung hatte, als die Kollegin zur Patientin wurde. Erst durch diese Anerkennung wird emotionale Entlastung möglich.
Sortieren statt Festhängen
Grenzfälle bringen oft ein ganzes Paket an Gedanken, Gefühlen und Fragen mit sich:
- Habe ich genug getan?
- Warum habe ich sie nicht mehr besucht?
- Darf ich so traurig sein, obwohl ich gar nicht eng mit ihr war?
Diese inneren Reaktionen sind oft ungeordnet und widersprüchlich – und blockieren das innere Weitergehen. In der Supervision darf alles nebeneinander stehen: Trauer und Wut, Schuld und Erleichterung, Nähe und Distanz.
Durch das gemeinsame Sortieren entsteht wieder innere Klarheit:
„Das war mein Platz in der Geschichte – und das darf so sein.“
Rolle klären
In Grenzsituationen verschwimmen die beruflichen Rollen. Bin ich Kollegin, Pflegende, Zeugin, Freundin? Oder bin ich einfach Mensch?
Supervision hilft, die eigene Rolle rückblickend besser zu verstehen:
- Was war mein Platz?
- Welche Erwartungen hatte ich – und welche wurden an mich gestellt?
- Wo bin ich vielleicht in eine Rolle geraten, die mir gar nicht gutgetan hat?
Diese Klärung stärkt das eigene professionelle Selbstbild und macht deutlich:
„Ich darf meine Rolle reflektieren – und neu justieren, wenn sie mir nicht mehr passt.“
Verbindung stärken
Gemeinsame Grenzerfahrungen können ein Team näher zusammenbringen – oder es innerlich spalten. Gerade wenn jede:r anders damit umgeht, entstehen leicht Missverständnisse, Rückzug oder stille Vorwürfe.
Supervision bringt die Stimmen zusammen. Sie macht Raum für das, was im Alltag nicht gesagt wurde:
„Ich habe dich gar nicht mehr gesehen in der Zeit – wie ging es dir eigentlich damit?“
So wird deutlich: Wir waren alle betroffen – nur auf unterschiedliche Weise.
Das schafft Verbindung, Verständnis und neue Teamqualität.
Stärkung durch Perspektivwechsel
In Grenzsituationen bleiben wir oft in einer engen, belastenden Sichtweise hängen:
- „Das war zu viel für mich.“
- „Ich hätte anders handeln müssen.“
- „Ich komme damit einfach nicht klar.“
Supervision ermöglicht neue Perspektiven – nicht durch Belehrung, sondern durch behutsames Nachfragen, durch Resonanz, durch das Teilen von Geschichten.
Manchmal reicht ein Satz einer Kollegin, um etwas zu verschieben:
„Ich habe das ganz ähnlich erlebt – und ich glaube, wir haben einfach unser Bestes gegeben.“
Dieser Perspektivwechsel kann entlasten, stärken, befreien. Und manchmal auch Türen öffnen – für neue Haltungen, mehr Selbstmitgefühl und eine bewusstere Art, Mensch im Beruf zu sein.
In der Pflege reden wir über Fachlichkeit, über Ressourcen, über Zeitdruck. Aber selten reden wir über das, was uns den Boden unter den Füßen wegzieht.
Wenn wir Grenzfälle nicht ernst nehmen, passiert Folgendes:
- Pflegende ziehen sich innerlich zurück
- Teams verlieren Verbindung zueinander
- Die Atmosphäre wird schwerer
- Belastungen werden nicht verarbeitet, sondern mitgeschleppt
Supervision ist Prävention. Für Burnout, für inneres Aussteigen, für das Gefühl, allein zu sein mit dem Unerträglichen.
Reflexionsfragen für Dich und Dein Team:
- Wo habe ich in meinem Beruf schon Grenzfälle erlebt?
- Was war mein erster Gedanke – was mein zweiter?
- Welche Sätze sind mir hängen geblieben?
- Wo war ich besonders berührt – oder besonders stumm?
- Wie geht mein Team mit solchen Momenten um?
- Wer darf bei uns sagen: „Das war mir zu viel“?
Fazit:
Grenzfälle im Beruf sind kein Zeichen von Schwäche, sondern ein natürlicher Teil menschlicher Arbeit. Supervision kann helfen, diese Momente nicht als Belastung, sondern als Teil des beruflichen Gewachsenseins zu begreifen.
„Professionell zu sein heißt nicht, keine Gefühle zu haben. Es heißt, Verantwortung im Wissen um die eigene Verletzlichkeit zu übernehmen.“ (nach Remo Largo)
Diesen Artikel dürfen und können Sie hier gern als pdf-Datei herunterladen: Artikel



