Halber Mantel - doppelte Wärme
Warum wir lieber Sankt Martin feiern
Ich bin in einer katholisch geprägten Region aufgewachsen. Ende der Achtziger gab es bei uns noch kein „Lichterfest“ – für uns Kinder war der Martinsumzug das große Ereignis im November. Ich erinnere mich genau: Es war oft bitterkalt, manchmal der erste Abend, an dem wir richtige Handschuhe trugen. In meiner Laterne brannte eine echte Kerze, und das Licht schimmerte durch das bunte Papier.
Ich weiß noch, wie ich da stand – klein, aufgeregt, in der Dunkelheit, umgeben von vielen anderen Kindern – und auf Sankt Martin wartete.
Und dann kam er: auf einem großen Pferd, ruhig, mit rotem Mantel.
Ich sah, wie er anhielt, sein Schwert zog und den Mantel teilte, um die Hälfte einem frierenden Mann zu geben.
Damals habe ich mich gefragt, warum er den Mantel nicht ganz verschenkt hat. Später habe ich verstanden: Er wollte helfen, ohne sich selbst aufzugeben.
Ich erinnere mich auch an dieses besondere Gefühl, Teil des Zuges zu sein – verbunden mit dem Licht meiner Laterne und mit den Stimmen beim Singen. Es war dunkel, aber ich hatte keine Angst. Ich gehörte dazu.
Die Legende von Sankt Martin
Die Legende erzählt, dass Martin, ein junger Soldat im römischen Heer, an einem kalten Winterabend einem halb nackten Mann am Stadttor von Amiens begegnete. Martin hatte weder Geld noch Proviant bei sich – nur seinen Soldatenmantel. Er hielt an, zog sein Schwert und teilte den Mantel in zwei Hälften. Eine Hälfte gab er dem Mann, die andere behielt er selbst. In der Nacht träumte Martin, Christus zu sehen – bekleidet mit genau dieser halben Mantelhälfte. Für Martin war das ein Wendepunkt: Er verließ später das Heer und widmete sein Leben der Menschlichkeit und dem Dienst an anderen.
Diese Szene berührt bis heute, weil sie etwas Grundlegendes ausdrückt: Mitmenschlichkeit braucht keine großen Worte – sie zeigt sich in kleinen, klaren Gesten.
Der Mantel als Symbol
Die Geschichte von Sankt Martin erzählt von Mitgefühl, aber auch von Maß. Von Wärme, die geteilt wird – ohne Selbstaufgabe. Martin hat seinen Mantel nicht geopfert, sondern geteilt. Und damit zwei Menschen vor der Kälte geschützt. Diese Haltung passt erstaunlich gut zu dem, was wir in der Palliative Care täglich tun.
Das Wort Pallium stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Mantel“. Es steht für Schutz, für Würde und für das Umhüllen eines Menschen mit Fürsorge, wenn das Leben verletzlich wird. Pflegende und Begleitende wissen, was es heißt, da zu sein, zu tragen und zu wärmen – und zugleich auf sich selbst zu achten. Denn wer alles gibt, hat irgendwann nichts mehr zu teilen. Der halbe Mantel ist kein Mangel an Hingabe. Er ist Ausdruck einer Haltung, die Mitgefühl und Selbstfürsorge miteinander verbindet.
Und genau in dieser Haltung geschieht so viel: Durch Gespräche, Gesang, Berührung, Nähe und Zuwendung schenken wir Menschen das Gefühl, dass sie nicht allein sind – auch nicht in ihrem ganz persönlichen dunklen November. Herzenswärme lässt Verbundenheit spürbar werden – still, echt und ohne viele Worte.
Warum wir lieber Sankt Martin feiern als Weihnachten
Weihnachten ist ein Fest voller Glanz und Erwartungen. Sankt Martin dagegen erinnert an das Wesentliche: an das Teilen, an Nähe, an Verantwortung füreinander. Er lädt ein, einen Moment innezuhalten und zu fragen:
Was kann ich teilen – Zeit, Aufmerksamkeit, Geduld, Anerkennung – ohne mich selbst zu verlieren?
Auch in unserer Arbeit erleben wir, dass es nicht die großen Gesten sind, die zählen, sondern die kleinen Momente, in denen Herzenswärme spürbar wird. Ein Gespräch, ein Lied, eine Berührung – sie alle sind wie Lichtpunkte, die Dunkelheit mildern und Menschen spüren lassen: Ich bin nicht allein.
Darum verschicken wir keine Weihnachtsgrüße. Wir möchten den November in den Mittelpunkt stellen – als Zeit des Lichts in der Dunkelheit. Ein stiller Monat, der uns daran erinnert, dass Wärme nicht von Kerzen oder Geschenken kommt, sondern von Begegnungen, die uns berühren.
Ein aufrichtiges Dankeschön
Wir möchten in diesem Zuge Danke sagen. Danke an alle, die in Pflege, Betreuung und Begleitung täglich „ihren Mantel teilen“. Danke für das, was oft unsichtbar bleibt – für Geduld, Humor, Fürsorge und Präsenz.
Vielleicht ist es in diesem Herbst stiller geworden oder dunkler als sonst. Dann möge dieser Gedanke ein kleiner Lichtpunkt sein:
Wärme vermehrt sich, wenn wir sie teilen.
Halber Mantel – doppelte Wärme. Das ist mehr als ein Spruch. Es ist unsere Haltung.
Einen lichten Martinstag wünscht
das MediAcion-Team
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