Praxisschock Tod – Zwischen Sprachlosigkeit und Lernchance
Wenn das Klappern nie aufhört
Vor mir sitzt eine Teilnehmerin Mitte 50 in einem Seminar zum Thema Sterben, Tod und Trauer. Die Stimmung ist ruhig, fast ehrfürchtig, als sie beginnt zu erzählen. Ihre Stimme ist fest, doch das Bild, das sie beschreibt, ist immer noch lebendig. Damals, ganz am Anfang ihrer Ausbildung, habe sie eine Patientin verloren, die ihr sehr ans Herz gewachsen war. Sie erinnert sich genau an den Moment, in dem sie den Körper mit einer Zinkwanne über das Krankenhausgelände bringen musste. „Ich höre das Klappern noch heute“, sagt sie. Sie hatte Angst, jemandem zu begegnen. Angst, dass die Wanne kippt. Dass jemand herausfallen könnte. Alles daran war gruselig. Unvergessen.
Ein paar Wochen später stehe ich in einem anderen Seminar – diesmal mit Auszubildenden im Jahr 2025. Ich frage nach Situationen, die die Azubis als schwer erleben. Und wieder geht eine Hand hoch. Eine junge Frau erzählt, dass sie nachts nicht schlafen konnte, weil sich in ihrem Dienst jemand zynisch über einen verstorbenen Patienten geäußert hatte. Sie konnte es nicht einordnen. Es hat sie erschüttert.
Ich höre Geschichten, die 30 Jahre zurückliegen. Ich höre Geschichten von vor zehn Jahren. Und ich höre Geschichten von heute. Und so unterschiedlich sie sind – eines bleibt gleich: die emotionale Wucht des ersten Kontakts mit dem Tod.
Ja, vieles hat sich verbessert. Die Ausbildung. Die Begleitung. Die Haltung. Und doch verändern sich manche Bilder nicht. Sie brennen sich ein. Oft ohne, dass jemand darüber spricht. Oft ohne, dass jemand gezielt begleitet.
Genau deshalb schreibe ich diesen Newsletter. Ich glaube, wir brauchen Schutzräume. Keine Überbehütung. Aber einen Schirm. Ein Schutzschild, das junge Auszubildende nicht allein lässt mit dem, was sie erleben. Und ich glaube: Reflexion darf kein Zufall sein – sie braucht einen institutionellen Rahmen.
Der entfremdete Tod – Wenn Erfahrung fehlt und Rituale verloren gehen
Der Tod gehört zum Leben – aber nicht mehr zum Aufwachsen. In unserer Gesellschaft hat er seinen Platz im Alltag weitgehend verloren. Die Lebenserwartung ist hoch, im Durchschnitt rund 81 Jahre. Viele Menschen sterben heute nicht mehr im vertrauten Umfeld, sondern in Institutionen: etwa die Hälfte in Krankenhäusern, etwa 30 Prozent in Pflegeheimen. Nur ein kleiner Teil stirbt noch zuhause – und damit im Kreis der Familie.
Für junge Menschen bedeutet das: Sie erleben den Tod kaum noch im familiären Kontext. Kaum jemand hat als Kind einen Verstorbenen gesehen, berührt oder sich verabschieden können. Wenn überhaupt, dann findet die erste Begegnung mit dem Tod über Filme, Serien oder Schlagzeilen statt. Und dann – plötzlich und intensiv – über den Beruf.
Der Tod wird in vielen westlichen Gesellschaften zunehmend ausgelagert. Bestattungen übernehmen Dienstleister, Särge bleiben geschlossen, Gespräche über Sterben und Trauer sind selten geworden. Es fehlen Rituale. Es fehlt kulturelles Erfahrungswissen – ja, es fehlen auch kulturelle Vorbilder im Umgang mit Abschied. Es fehlt ein innerer Kompass, wie man mit dem Tod umgeht.
Und vielleicht – so unfassbar es im ersten Moment klingt – zieht genau diese Lücke, diese Sprachlosigkeit, manche jungen Menschen in die Pflege. Vielleicht ist es kein Zufall, dass viele Auszubildende in Pflegeberufen eigene Verlusterfahrungen mitbringen: den frühen Tod eines Elternteils, eine schwere Krankheit im nahen Umfeld, biografische Brüche.
Ich höre solche Geschichten häufig. Ob das in anderen Berufen, etwa im kaufmännischen oder technischen Bereich, ähnlich häufig vorkommt – das weiß ich nicht. Es ist kein gesichertes Wissen, sondern ein Gefühl, eine wiederkehrende Beobachtung aus meiner Praxis. Vielleicht, so meine Vermutung, führt gerade die eigene Auseinandersetzung mit Sterben und Trauer manche bewusst in ein Berufsfeld, das mit existenziellen Themen arbeitet. In ein Berufsfeld, das Antworten verspricht – oder zumindest Räume, in denen Fragen gestellt werden dürfen.
Wenn das so ist, dann braucht es umso mehr Aufmerksamkeit: Denn wer mit offenen, noch ungeheilten Fragen in den Beruf einsteigt, trifft dort auf eine Realität, die schnell überfordern kann – wenn niemand da ist, der mitträgt. Und genau das macht den ersten Kontakt mit einem verstorbenen Menschen so intensiv. Der Körper sieht anders aus. Riecht anders. Fühlt sich anders an. Viele Auszubildende berichten, dass sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollen. Dass sie Angst hatten, etwas falsch zu machen – oder einfach keine Worte fanden.
Früher war es selbstverständlich, dass Kinder am offenen Sarg Abschied nahmen. Heute passiert der erste echte Kontakt oft in einer Frühschicht. Zwischen Medikamentenrunde, Zeitdruck und Dienstplan. Was früher durch Familie, Gemeinschaft und gelebte Abschiede vermittelt wurde, braucht heute einen Ort in der Ausbildung – nicht nur als theoretisches Wissen, sondern als begleitete Erfahrung. Als Raum für Sprache. Für Unsicherheit. Für das, was nicht greifbar ist.
Was junge Menschen in der Pflege erleben
Der Einstieg in die Pflege ist mehr als ein Berufsbeginn. Für viele junge Menschen bedeutet er: Das erste Mal mit dem Tod konfrontiert zu sein – mitten im eigenen Lebensumbruch.
In einer Zeit, in der andere ihre ersten Reisen planen, in Wohngemeinschaften ziehen oder ihr Studium beginnen, erleben Auszubildende in der Pflege: Sterben und Abschied, Körperlichkeit in Grenzsituationen, Verfall, Schmerz, Gerüche, Blut – und manchmal auch Zynismus, Überforderung und Sprachlosigkeit im Team. Und das in einer Lebensphase, die ohnehin von inneren Umbrüchen geprägt ist: Identität finden. Selbstwert aufbauen. Loslösen vom Elternhaus. Sich orientieren in der Welt.
Neurobiologisch ist das Gehirn in dieser Zeit noch im Umbau: Emotionale Reize treffen stark, die Steuerungs- und Regulationseinheiten sind noch in der Reifung. Junge Menschen fühlen intensiv – und oft fehlen ihnen Worte oder Strategien, damit umzugehen. Hinzu kommt: Der Tod ist für viele von ihnen eine vollkommen neue Erfahrung. Kaum jemand hat zuvor einen toten Menschen gesehen. Rituale fehlen, Erfahrungswissen auch. Es gibt kein eingeübtes „Skript“, wie man sich verhält – dafür umso mehr Unsicherheit, Scham oder Ekel.
Was junge Menschen dann brauchen, ist kein „das wird schon“. Sie brauchen einen sicheren Raum, eine klare Begleitung, Ansprechpartner:innen, die da sind – und einen institutionellen Rahmen, der das Thema Tod nicht den Zufällen des Alltags überlässt.
Denn was heute prägt, wirkt oft ein Leben lang nach – positiv wie negativ.
Ängste benennen – Sprachlosigkeit verstehen
Wenn junge Auszubildende zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert werden, entsteht oft eine Mischung aus Unsicherheit, Angst und Überforderung. Nicht selten bleibt das unausgesprochen – und wirkt im Verborgenen weiter.
Viele berichten von der Angst, etwas falsch zu machen: den Körper nicht richtig zu waschen, Hygieneregeln zu verletzen, persönliche Gegenstände nicht angemessen zu behandeln. Andere erleben den Kontakt mit dem toten Körper als emotional belastend. Die Kälte, die Starre, der veränderte Geruch – all das ist ungewohnt, manchmal beängstigend oder sogar mit Ekel verbunden. Ein großer Unsicherheitsfaktor ist auch der Umgang mit trauernden Angehörigen. Was sagt man in so einem Moment? Wie viel Nähe ist richtig? Wie viel Distanz ist notwendig? Viele haben Angst, durch falsche Worte oder unbeholfene Gesten noch mehr Schmerz auszulösen. Nicht zuletzt gibt es auch tief verwurzelte, oft tabuisierte Ängste: Angst vor übernatürlichen Momenten, vor Kontrollverlust, vor dem eigenen Tod. Filme und Mythen tragen ihren Teil dazu bei. Hinzu kommt der Zeitdruck. Wer neben der Versorgung eines Verstorbenen noch weitere Aufgaben erfüllen muss, erlebt nicht nur Stress, sondern auch das Gefühl, dem Moment nicht gerecht zu werden.
Was es braucht? Orte, an denen diese Ängste ausgesprochen werden dürfen – ohne Bewertung. Praxisanleitende, die zuhören, begleiten und ermutigen. Und ein Team, das versteht: Sprachlosigkeit ist kein Defizit – sie ist ein Signal.
Was es jetzt braucht
Was wir brauchen, ist nicht mehr Wissen. Auch nicht mehr Standardisierung. Was es braucht, ist die Weiterentwicklung einer reflektierenden Praxis. Eine Praxis, in der Emotionen Platz haben – nicht als Schwäche, sondern als Teil professionellen Handelns.
Es braucht Pflegende, die den Mut haben, den emotionalen Schirm über Auszubildende zu spannen. Kein Schutzschirm aus Überbehütung – sondern ein Schirm, gespannt aus Zuhören, aus Reflexion, aus Wachheit für herausfordernde Situationen. Aus Achtsamkeit. Und aus Offenheit für das, was an emotionalen Anforderungen mitschwingt.
Und es braucht Praxisanleitende, die diesen Schirm halten können – weil sie wissen, dass auch sie fühlende Menschen sind. Menschen, die manchmal selbst ins Wanken geraten. Menschen, die sich trauen, nicht alles zu wissen. Menschen, die bereit sind, auch sich selbst ehrlich zu begegnen.
Der Blick geht in drei Richtungen:
Auf die Emotionen des Auszubildenden.
Auf die Haltung der Praxisanleitenden.
Und auf das, was beide verbindet: Reflexion und Wahrhaftigkeit im Umgang mit Grenzen.
„Dass Auszubildende den Tod erleben, ist unausweichlich.
Ob sie dabei wachsen oder innerlich abschalten, hängt davon ab, ob jemand hinschaut – oder einfach weitermacht.“
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